von Sarah Schill, 12.08.2015
„Hilft gegen den Stress!“ Ioánnis* gießt mein Glas randvoll mit Ouzo. Das Dritte vielleicht. Es ist der Abend vor meinem Abflug nach Athen, den ich mehr zufällig beim Griechen am Eck verbringe. Alles wie gehabt: Essen lecker, Retsina scheußlich, Wirt freundlich. Warum es nicht bei dieser griechischen Begegnung belassen? Weshalb selbst in das gebeutelte Land reisen und versuchen zu verstehen, was Journalisten, Wirtschaftsweise und Politikwissenschaftler gleichermaßen vergeblich aufzuschlüsseln suchen? Was habe ich mit Griechenland zu tun – und was mit der Krise?
Zunächst einmal: Ich liebe dieses Land, liebte es schon in meiner Kindheit, als mein griechischer Onkel uns auf der kleinen Insel mit zum Angeln nahm. Ich liebe die so archaische Sprache, die Geschichten von allzu menschlichen Göttern und Göttinnen, die Ideen der antiken Denker. Diese Vorlieben und Zuneigungen teile ich wohl mit vielen Menschen. Reicht das aus? Dem Land meiner Kindheitssommer einen Besuch abstatten und herausfinden, ob die Sonne noch sticht und die alten Männer, ärmer jetzt, nach wie vor parlierend auf ihren Bänken sitzen. Krisentourismus also?
Das trifft es nicht ganz.
So abgedroschen es klingt: Gerade als Deutsche fühle ich mich in der Verantwortung, selbst wenn es nicht unsere Politiker alleine waren, die über die Auflagen entschieden haben. Das ist ja an sich tatsächlich nichts Neues. Als Jugendliche entschuldigte ich mich auf Reisen permanent für das Land aus dem ich komme. Irgendwann fand jedoch eine Aussöhnung statt, ich konnte die Schönheit der Landschaft und sogar die Geschichte und den Umgang damit schätzen, ein vorsichtiges Pflänzchen des „ist vielleicht doch ganz ok, dieses mein Heimatland“. Heute – besonders seit der Entscheidung über das 3. Reformpaket – fühlen viele Deutsche sich wieder in der Pflicht, sich lautstark von ihren Volksvertretern zu distanzieren und in einigen Ländern flammt Anti-Deutsche Propaganda auf. Ist es denn wirklich so, dass ich mich in diesem meinem Griechenland fortan als Schwedin ausgeben muss, wie Freunde mir rieten? „Die denken da doch wir sind alle Nazis!“
Ich möchte mehr erfahren, als die oft kontroversen und je nach Ausrichtung deutlich tendenziösen Medienberichte mir mitzuteilen vermochten. Über Wochen gab es nur ein Thema, doch inzwischen ist Ruhe eingekehrt. War also die Aufregung umsonst? Geht es dem griechischen Volk jetzt gut? Und wenn schon nicht dem Volk, dann zumindest der Wirtschaft?
Spontan habe ich einen Flug nach Athen gebucht und über die üblichen Netzwerke ein paar Kontakte gesammelt, die mir den Einstieg erleichtern sollen.
Mit ouzoschwerem Kopf lande ich in Thessaloniki, wo ich zwei Stunden Aufenthalt habe, bevor es nach Athen weitergeht. Vor dem Eingang des Flughafens begrüßen mich bunte „Post it“-Zettel unter der Überschrift „Share one thought for Greece“. Jede Menge happy Griechenlandurlauber preisen Sonne, Meer und tolle Parties. Dazwischen einige „Alexis we love you!“ Botschaften und – wie nicht anders zu erwarten – „We didn’t vote for Angela Merkel. We love Greece! We love greek people“, schreiben drei Kölner Urlauber über gleich vier Klebezettel. Der wiedererwachte deutsche Drang zur Rechtfertigung. Ich fühle mich gleich besser.
Beim Warten auf den Anschlussflug komme ich mit Mike ins Gespräch, der eigentlich Michalis* heißt und mich sogleich vor den vielen Syrern, Afghanen und anderen Ausländern warnt, die in dem Viertel in dem ich wohnen werde, „herumlungern“. „No good people, gipsies you know.“ Mike wohnt im Reichen-Viertel Kolonaki, seine Kleidung ist teuer, gerade überlegt er, ein Haus auf einer Kykladen-Insel zu kaufen. Die Krise, meint er, sei so schlimm nun auch wieder nicht.
In Zeiten wie diesen sehnen sich die Menschen nach scheinbar einfachen Lösungen.
In Athen ist zunächst tatsächlich wenig davon zu spüren, außer vielleicht eine träge Erschöpfung, die allerdings auch den über 40 Grad geschuldet sein mag. Die „Oxi“-Plakate des Referendums sind abgeblättert, die Cafés zumindest am Abend gut besucht. In einem davon treffe ich mich mit Lambros, einem Sounddesigner, der in Deutschland, Frankreich und Griechenland arbeitet. Auf die Frage nach der von Mike erwähnten Gefahr durch kriminelle Ausländerbanden meint er: „Wirklich schlimm ist der Rechtsruck, der gerade in Griechenland stattfindet.“ Die faschistische Partei Chrysi Avgi, zu deutsch „goldene Morgendämmerung“, erzielte bei den diesjährigen Parlamentswahlen 6,28% der Stimmen. „Die gewinnen durch ihre pseudo-systemkritischen Parolen immer mehr Anhänger.“ Ein altes und beileibe nicht nur ein griechisches Problem. In Zeiten wie diesen sehnen sich die Menschen nach scheinbar einfachen Lösungen.
Lambros selbst hat Glück. Bei Jobs im Ausland verdient man besser – und das Geld wird auch tatsächlich ausgezahlt, im Gegensatz zu hiesigen Produktionen. Die Krise aber ist dennoch omnipräsent. „Es fängt bei Kleinigkeiten an, wie der Tatsache, dass die amerikanische Firma das Geld für meine Website nicht mehr einziehen kann – die ist jetzt lahmgelegt. Das ist beruflich ziemlich problematisch, aber im Gegensatz zu anderen geht es mir gut.“ Beispielsweise im Gegensatz zu seinen ehemaligen Klassenkameraden, die Müll sammeln, um ihr Studium finanzieren zu können. Oder zu den vielen oft sauber gekleideten Menschen, die dieser Tage in Restaurantabfällen wühlen. Wenn er ihnen eine Tüte mit Lebensmitteln bringt, senken sie den Kopf und lehnen dankend ab. „Der Hund hatte Hunger.“ „Die schämen sich natürlich. Bis vor kurzem hatten sie ein Haus und einen Job.“ Er gibt ihnen das Essen dann trotzdem. „Für den Hund.“
Lambros ist sicher, dass hinter der momentanen Lage seines Landes ein Plan der großen Euroländer steckt, allen voran Deutschlands. „Sie wollten die Regierung mit ihrer Erpressung loswerden. Als das nicht geklappt hat, haben sie Tsipras so lange in die Ecke gedrängt, bis er diesen Knechtschafts-Deal unterschrieben hat.“ Dennoch hätte die Krise auch ihr Gutes gehabt. „Die Masken sind gefallen. Durch die neue Regierung zeigen sich die Machthaber Europas, wie sie wirklich sind.“
Was dahinter steckt ist für ihn klar. „So treibst du einen Staat klassisch in die totale Handlungsunfähigkeit. Du verkleinerst das Militär, damit das Land sich nicht mehr verteidigen kann. Du baust das Gesundheitssystem ab und privatisierst es, so dass sich der normale Bürger medizinische Versorgung nicht mehr leisten kann. Und schließlich zerstörst du das Bildungs-System und erschaffst private Organisationen, so dass der Unterricht der Oberschicht vorbehalten ist. Eine größere Arbeiterklasse sorgt für billige Arbeitskräfte. Die ausländischen Unternehmer profitieren dann von den niedrigen Lohnkosten.“ Und die Hilfszahlungen? „Es ging nie um die Rettung Griechenlands, sondern um die der Banken. 77% des Geldes aus den ersten beiden Reformpaketen ist direkt oder indirekt in den Finanzsektor geflossen.“ Ich habe diese und ähnliche Theorien bereits an anderen Stellen gehört, bin jedoch bei aller Antipathie was die Macht von Banken und undurchsichtige Wirtschaftsinteressen betrifft, unzureichend belegten Verschwörungstheorien gegenüber zumindest vorsichtig. Die Krise einzig als hinterhältigen, lange gefassten Plan von fiesen Finanzhaien und machthungrigen Euroländern zu betrachten erscheint mir ein wenig eindimensional.
Die hätten uns angebettelt.
Ich äußere meine Zweifel. Lambros lenkt ein. „Natürlich ist es nicht so einfach. Wir haben unsere Wirtschaft neben den bekannten Problemen wie Steuerhinterziehung, Vetternwirtschaft und der Verweigerung seit Jahren bekannter und dringend notwendiger Reformen rein auf Dienstleistung aufgebaut. Versicherungen, Privatlehrer, Juristen… Nach der Bankenblase der 80er fühlten wir uns so sicher, dass wir die Produktion aufgegeben haben. Jetzt sind wir dazu nicht mehr in der Lage.“ Noch dazu verließen die jungen, gut ausgebildeten Leute das Land. „Es fehlen hunderttausende Akademiker und Wissenschaftler die dazu beitragen könnten, das Land wieder aufzubauen.“
Ich frage ihn nach seiner Haltung zur Links-Regierung um Alexis Tsipras. Lambros‘ Augen leuchten. „Tsipras war nach Jahrzehnten der Machtaufteilung unter konservativen oder sozialistischen Familienparteien der Erste, von dem wir nicht wussten, wann er geboren wurde. Das war großartig.“ Er hätte es allerdings durchziehen und es auf den Grexit ankommen lassen sollen. „Die hätten uns angebettelt.“ „Die“ bedeutetet erster Linie wohl Angela Merkel und der viel gehasste Finanzminister Schäuble. Doch es kam anders.
Wie war das für sie, als Tsipras keine Alternative sah, als dem Reformpaket zuzustimmen? Der Gedanke an die empfundene Demütigung macht ihn wütend. „Warum sollen wir akzeptieren, dass zum Beispiel meine Eltern bis 67 hart gearbeitet haben und im Vergleich zu anderen Euroländern nur ein Drittel der Rente bekommen?“ Noch dazu, da es in Griechenland so gut wie keine staatliche Unterstützung gibt und Arbeitslosengeld lediglich für ein Jahr gezahlt wird. „Die Renten funktionieren wie eine Art Sozialhilfe, Rentner bringen damit in der Not ihre gesamte Familie durch.“ Natürlich müsse auch das Rentensystem reformiert werden, doch nicht zu Lasten der Rentner. „Dass die jetzt noch weniger bekommen sollen, ist eine Schweinerei.“
Und dann sagt er den Satz, der mich tatsächlich sprachlos macht. „Wenn sie gesagt hätten, wir ziehen gegen Deutschland und die anderen in den Krieg – ich hätte es gemacht.“ Ich bin schockiert – dieses Wort mitten in Europa zu hören ist neu und durchaus beängstigend. Gibt es seiner Meinung nach tatsächlich so wenig zu verlieren? Lambros sieht vor sich hin. „Du siehst doch, wo wir stehen. Griechenland ist am Ende. Es hat seinen Kreis geschlossen, es wird ausverkauft.“
50 Milliarden sollen laut des neuesten Reformpakets durch Privatisierung griechischen Eigentums erwirtschaftet werden, darunter ertragreiche Flughäfen auf den Kykladen. Einnahmen, die fortan in die Taschen eines deutschen Unternehmens fließen, statt zur Gesundung des Landes eingesetzt werden zu können. „Das meiste Land wird nicht mehr den Griechen gehören“, meint Lambros. Er deutet zur Akropolis. „Die letzte unabhängige Macht ist dieses Monument das du da siehst.“
Verbindet euch mit eurer Geschichte und fangt an, euer Land zu nutzen.
Keine Hoffnung also? Er zuckt die Schultern. Der bekannte Autor und Stückeschreiber Dimitris Dimitriadis habe es so formuliert, dass dieses Land gestorben sei. Erst wenn es den eigenen Tod akzeptiere, könne es neu geboren werden. Lambros‘ persönlicher Wunsch an die Griechen, vor allem die jüngere Generation: „Verbindet euch mit eurer Geschichte und fangt an, zu produzieren und euer Land zu nutzen. Nur so können wir wieder stark werden. Um für die Veränderungen bereit zu sein, nach denen wir fragen, müssen wir uns erst mal selbst verändern.“ Aber Hoffnung? Nein, hoffen könne man darauf nicht.
Nachdenklich sitze ich in einem Kaffee. Der Wirt erkennt mich als Deutsche, natürlich. Er war ein Geschäftsmann, bis er den Job verlor und sich mit dem kleinen Kafenion selbständig gemacht hat. Ich frage nach der Krise. Ausgerechnet in Griechenland, der Wiege der Demokratie. Er lacht. Das große historische Erbe des Landes sei längst zum Klischee verkommen. Diese Demokratie war in erster Linie für Reiche gedacht. „Die Sklaven, die an der Akropolis gebaut haben, meinen Sie für die gab es Demokratie?“
Vor Athen laufen tausende Haustiere herum, die frei gelassen wurden, weil ihre Besitzer das Futter nicht mehr zahlen können.
In den letzten vierzig Jahren sei hier alles kaputt gewirtschaftet worden. Der öffentliche Apparat beispielsweise, der mit der zunehmenden Digitalisierung nicht abgebaut wurde. „Zehn Leute saßen rum und einer hat gearbeitet.“ Oder die Schule. „Das Schulsystem ist so marode, dass die Kinder grundsätzlich privaten Zusatz-Unterricht brauchen. So wurden hunderte Akademiker durchgefüttert.“ Die Krise jetzt lässt die Auswirkungen natürlich zuerst die einfachen Leute spüren. „Vor Athen laufen tausende Haustiere herum, die frei gelassen wurden, weil ihre Besitzer das Futter nicht mehr zahlen können.“
Diejenigen die sich an Staats- und EU-Geldern bereichert haben, seien nicht belangt worden. Die Linke und der ehemalige Finanzminister Varoufakis hätten versucht, an die reichen Auslandsgriechen ran zu kommen. „Das Geld ist natürlich nicht mehr in Griechenland, das lagert auf Schweizer Konten. Ihm wurde von den Schweizer Banken und auch den anderen EU-Ländern nicht geholfen, da ran zu kommen.“
Und das Referendum? Wie kann es sein, dass ein Land feiert, wenn beschlossen wird, notwendige Maßnahmen zur Rettung ebendiesen Landes nicht zu ergreifen? Einzig der gestärkte Nationalstolz? Er zündet sich eine Zigarette an, sieht dem Treiben auf der Straße zu. „Bei dem Referendum ging es in erster Linie um Klassen, um den Stand in der Gesellschaft. Diejenigen die für `Ja` gestimmt haben, waren die etablierte Klasse mit Plastikfähnchen und sauber produzierten Stickern. Um elf Uhr abends war bei denen Ruhe. Die Gegner des Reformpakets waren eine andere Klasse, da ging es bunt zu, es gab Bands aus allen Bereichen, sie haben gefeiert. Das war ein Sieg der einen Klasse über die andere. Aber so was versteht ihr nicht.“
Ich trinke meinen dicken, süßen Kaffee und verabschiede mich. Er bedankt sich für mein Kommen und das Interesse. Gerade als Deutsche.
Ohne die Familie würde das hier völlig anders aussehen.
In der U-Bahn bettelt eine Frau. Sie bekommt von fast allen Mitfahrern Geld, deutlich anders als beispielsweise in der Berliner U-Bahn. Eine junge Mutter läuft ihr sogar hinterher als sie aussteigt, um ihr etwas in den Becher zu werfen.
„Die Leute halten zusammen“, sagt mir Thalia*. „Ohne die Familien, die sich unterstützen, würde das hier völlig anders aussehen.“ Thalia lebt in München, ist aber über den Sommer mit ihrem kleinen Sohn zu Besuch bei ihren Eltern in Athen. Mit ihr will ich eine der insgesamt vierzehn Kinder-Aufnahme-Einrichtungen der NGO „The smile of a child“ besuchen. Eine junge Frau mit Namen Aphrodite (sic!) führt uns durch das Haus. Aus den Zimmern beäugen uns griechische und ausländische Kinder. Zwei dunkelhäutige Mädchen sitzen auf dem Sofa und gucken SpongeBob. „Die wurden am Flughafen aufgegriffen. Sie sind aus dem Kongo. Ihre Eltern sind irgendwo in Frankreich. Vielleicht.“
Aphrodite führt uns zu Pangiotis Pardalis Dresios, der für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Er freut sich über unser Kommen und beginnt gleich zu erzählen. Die NGO ist spendenbasiert und arbeitet vor allem mit freiwilligen Helfern. Die Aufgabengebiete erstrecken sich von der direkten Intervention, also beispielsweise der Aufnahme von Kindern aus gewalttätigen oder übergriffigen Familien über den Ankauf medizinischer Ausstattung, darunter auch Krankenwägen, bis hin zu Aufklärung, kostenloser Vorsorge, Impfungen und Reha-Maßnahmen von kranken Kindern in den personell unterbetreuten Krankenhäusern. Mit 430 Mitarbeitern, darunter Krankenschwestern, Psychologen oder auch Köche und mehr als 2000 freiwilligen Helfern greifen sie ein, wo der Staat den Bedarf nicht decken kann. „Die Krankenwägen und medizinische Ausstattung haben wir zum Beispiel in das Gesundheitssystem mit eingebracht, einfach weil es sonst keine Möglichkeiten gibt.“
Wenn eine Familie in einem Bergdorf einen Notfall hat, ein Kind mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht oder mit einem Hirntumor zu Behandlungen abgeholt werden müsse, gäbe es häufig weder Personal, noch die medizinischen Mittel. Zudem sind viele Familien nicht krankenversichert. „Es gab schon vor der Krise Probleme, auch weil Steuergelder für Schulen oder soziale Einrichtungen nicht bei den Bedürftigen ankommen. Da fehlt die Transparenz.“
Seit Einbruch der Krise aber sei der Druck auf die Familien gewachsen. „Die Kinder sind als die schwächsten Glieder natürlich die ersten, bei denen sich das zeigt. „Das rutscht von einer finanziellen in eine psychologische Krise, die lange in den Familien bleibt und dann explodiert.“ Einige Eltern würden aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit gewalttätig oder fingen an zu trinken. Viele Kinder würden dann aus den Familien genommen und in unzureichenden staatlichen Institutionen „geparkt“ – oder man ließe sie trotz des Wissens um das problematische Umfeld in den Familien, einfach weil es keine andere Möglichkeit gibt. „Wenn wir einen Anruf bekommen, dass sechs Geschwister in einem fensterlosen Raum zwischen Kakerlaken und Exkrementen aufgefunden wurden und wir das ablehnend entscheiden müssen, weil uns die Mittel fehlen, das ist schwer zu ertragen“, so Pangiotis. Die Organisation benötige für all ihre Häuser und Aktionen rund eine Million Euro pro Monat, wobei die wenigen Angestellten weit unter 1000€ verdienten. Bislang wurde sie rein aus Spendengeldern finanziert, doch durch die Krise fallen die Gelder weg und die Bedürftigkeit steigt. „Diejenigen, die uns bislang unterstützt haben, stehen jetzt vor unserer Tür und bitten selbst um Unterstützung.“
Wir müssen es schaffen, schon um der Kinder Willen.
Allein im ersten Halbjahr 2015 wurde Unterstützung für rund 60.000 Kinder und Familien angefragt. 2011 waren es noch 20.000 in einem Jahr. „Krankenhäuser schließen, behinderte Kinder werden aus Mangel an Personal an den Betten fixiert, es fehlen Medikamente.“ Dennoch will Pangiotis nicht aufgeben. Er ist nach Jahren in Österreich und der Schweiz zurück nach Athen gekommen, um zu helfen, etwas zu tun, aktiv zur Veränderung beizutragen. „Wir müssen weiterkämpfen und optimistisch bleiben. Das ist die einzige Möglichkeit, denn wir müssen es schaffen, schon um der Kinder Willen.“ Dafür brauche es einen starken Staat, doch vor allem brauche es eine Zivilgesellschaft und Zusammenhalt. „Regierungen kommen und gehen. Es sind die Leute, die den Unterschied machen.“ Unter www.saveoursmile.net ruft die Organisation nun Unterstützer im In- und Ausland zur Mithilfe auf. Und wenn das nicht klappt? Pangiotis schweigt.
Als wir gehen winkt uns ein kleines Mädchen zu, ihr Rücken gekrümmt, die Arme auf Krücken gestützt. Ich frage mich, was aus ihr und all den anderen Kindern werden soll, wenn „The smile of a child“ nicht mehr weitermachen kann und ob diejenigen, die über die Zukunft dieses Landes entscheiden, sich ähnliche Gedanken machen.
Thalia beschreibt, wie wütend sie wird, wenn sie Berichte in den deutschen Medien liest. „Wie die Griechen dargestellt werden, das fängt schon beim Kinderprogramm an, in dem erklärt wird, dass wir hier sich von den anderen Ländern Geld geliehen und zu wenig gearbeitet hätten und den Deutschen nun richtig viel Geld schulden. So was tragen die dann in die Schule, das ist ein Desaster.“
Sie erzählt von einer Freundin, die ein griechisches Lokal in einer bayerischen Ortschaft betreibt. „Die hat Morddrohungen bekommen: geh nach hause, du fauler Grieche, sonst tun wir deinem Kind was an. Das war total krass, die hat richtig Angst.“ Thalia selbst vermeidet es inzwischen, mit ihrem Sohn in München auf der Straße griechisch zu reden. Nach ihrer Zukunftsprognose befragt meint sie: „Tsipras hat keine Chance, etwas zu ändern oder Reformen durchzubringen, die haben ihm ja die Hände gebunden.“
Ein weiteres großes Problem sei natürlich die Situation der Flüchtlinge. Im Areos Park hätten Afghanische Flüchtlinge gerade ein Lager aufgebaut. „Da sitzen Kinder und schwangere Frauen bei fast 50 Grad in der Sonne. Die waren zum Teil völlig dehydriert. Die Mitarbeiter von The smile of a child sind mit Krankenwägen dort hin gefahren und hat vor allem Kinder in die Krankenhäuser gebracht oder vor Ort notversorgt.“
Wenn man über Jahre gedemütigt wird und dann hier auf der Straße landet – was hat man noch zu verlieren?
Ich fahre in den Park, um mir die Situation vor Ort anzusehen. Als erstes fällt der Gestank auf. Es riecht nach Exkrementen, in einer Ecke verteilt ein Dealer gerade Heroin an desaströs verwahrloste Junkies. Daneben spielt ein etwa zweijähriges Kind im Dreck. Ein Kleiderhaufen liegt auf der Erde, achtlos hingeworfen. In Zelten oder auf Pappkartons sitzen afghanische Familien. Bergeweise Müll liegt herum, die Sonne glüht.
Ich bringe Wasser zur Verteilstation. „Wir haben einen Hilfsaufruf gestartet für die ersten die hier ankamen“, erzählt mir die restlos übermüdete Helferin. „Das haben andere Flüchtlinge mitbekommen und jetzt kommen jeden Tag mehr. Inzwischen sind es an die 500.“ Die ersten Spendenaufrufe stießen in der Bevölkerung auf große Unterstützung. „Aber was ist in einer Woche oder in zwei?“
Die Situation von Flüchtlingen war schon vor der Krise problematisch. Als Tor zu Europa strömen geflüchtete Menschen aus Krisenstaaten zu tausenden in das Land. „Seit Beginn des Jahres sollen mehr als 100.000 Flüchtlinge allein auf dem Seeweg nach Griechenland gekommen sein.“ Das neue Sparpaket schreibt einen Einstellungsstopp vor, weshalb die Registrierung und Unterbringung der Flüchtlinge vollkommen unzureichend von viel zu wenig Personal organisiert würde. „Wir haben keine finanziellen Mittel sie zu ernähren, von Unterbringung oder medizinischer und psychologischer Betreuung mal ganz abgesehen.“ Die Zunahme der Kriminalität liegt natürlich nicht nur an den Flüchtlingen, aber auch. „Wenn man über Jahre und unter Erleiden traumatischster Erfahrungen geflohen ist, teilweise in den europäischen Aufnahmeanlagen noch missbraucht und gedemütigt wurde und dann hier auf der Straße landet, ohne genug zu essen für die Kinder – was hat man noch zu verlieren?“
Nachdem ich weitere Lebensmittel in die Aufnahmestation des Anarchistenviertels Exarchia gebracht habe, das wider alle Vorwarnungen wirkt wie eine gemütliche Version Kreuzbergs in den 80ern, treffe ich mich mit Hassan, einem zarten, eher schüchternen jungen Afghanen, der seit 2006 in Athen lebt. Er erzählt mir seine Fluchtgeschichte. Sie ist natürlich unerträglich. Allerdings eben eine von tausenden unerträglichen Geschichten, das ist ja das eigentliche Grauen.
„Anfangs lief es hier ganz gut“, erzählt er. Er bekam einfache Jobs auf dem Bau oder in einer Bäckerei. Mit der Krise verloren die Flüchtlinge ihre Arbeit. „Viele Griechen waren plötzlich selbst arbeitslos und brauchten Jobs, da wollten sich die Arbeitgeber solidarisch mit ihren Landsleuten zeigen.“ Seitdem ist die Lage fatal.
Nach seinen Wünschen gefragt steht an oberster Stelle die Anerkennung als politischer Flüchtling. Dann aber senkt Hassan den Kopf. Wovon er träumt, seitdem er an einem Kunstprojekt mit anderen Geflüchteten teilgenommen hat, ist es, Theater zu spielen. Hier in Athen darf er zumindest immer mal wieder mal als Bühnenarbeiter im Off-Theaterbereich mithelfen. Nur ob er bleiben kann, ist unklar. „Ohne Jobs muss ich weiter.“ Vielleicht ja nach Deutschland, diesem verheißungsvoll reichen Land im Norden…?
Im Winter heizen wir maximal vier Stunden pro Tag, mehr ist nicht drin.
Vor meiner Abreise treffe ich noch Maria*, deren Nummer ich von meinem Onkel bekam. Er riet mir, sie mobil anzurufen. „Maria ist immer in der Arbeit“. Die müde aussehende kleine Frau Ende 40 ist Staatsangestellte, die seit den Sparauflagen unter den Kürzungen ihres Einkommens leidet. Von ihr möchte ich erfahren, wie es denn wirklich zugeht in diesem „aufgeblasenen Staatsapparat“. Bei 10-12 Stunden Arbeit an sechs Tagen der Woche verdiente sie bis 2011 als ausgebildete Biologin um die 2.000 €, jetzt sind es noch 1.100 €. Ihr Mann bekommt seit Beginn der Krise als Selbständiger keine Aufträge mehr, so dass Marias Gehalt nun für die dreiköpfige Familie ausreichen muss. Mit der dem unzureichenden Gesundheitssystem geschuldeten Privatversicherung, Steuererhöhungen, erhöhten Strom- und Heizkosten und dem ebenfalls notwendigen privaten Zusatzunterricht für ihre Tochter reicht das Geld hinten und vorne nicht aus. „Im Winter heizen wir maximal vier Stunden pro Tag, mehr ist nicht drin.“ Dabei wäre sie durchaus bereit, sich auf „fünf harte Jahre“ einzustellen, wenn sie irgendeine Hoffnung hätte, dass es danach bergauf ginge. „Das Problem ist, dass es der Wirtschaft ja nicht besser geht. Keiner weiß was passieren wird, aber niemand glaubt, dass dieses neue Programm irgendwohin führt.“
Davor haben wir einfach und gut gelebt, aber plötzlich schien alles möglich.
Zu ihrer Arbeit befragt sagt Maria, dass es inzwischen an allen Ecken an Leuten mangle. „Die Bürokratie ist nach wie vor überzogen hoch, da sollte angesetzt werden. Aber es gibt ohnehin schon zu viele Arbeitslose.“ Die Selbständigen ohne Auftrag wie ihr Mann seien in den Arbeitslosenzahlen noch nicht mal mitgezählt. „Natürlich sollten wir ein gut organisiertes System haben und zwar ohne dass uns das jemand sagen muss. Wir waren vom Geld geblendet.“ Eine Weile riefen die Banken fast täglich an, um für billige Kredite zu werben. „Davor haben wir einfach und gut gelebt, aber plötzlich schien alles möglich.“ Viele ihrer Freunde kauften sich damals ein Haus oder eine Wohnung. Seit einiger Zeit aber gibt es wieder tägliche Anrufe. Von den Banken beauftragte private Geldeintreiber fordern die Bankschulden ein, zum Teil unter massivem Druck. Viele Leute halten diesem nicht stand. „Die Selbstmordrate und die Anzahl psychischer Erkrankungen ist extrem angestiegen.“
Einige Leute zahlten einfach was sie irgendwie auftreiben können. „Damit bekommen die Banken zumindest etwas Geld, die Kredite werden aber nicht abbezahlt. Ein Hamsterrad der Verschuldung.“ Sie selbst will nicht zurück in den Zustand vor dem Memorandum. „Die Verschuldung hat uns gefangen gehalten. Wir haben als Gesellschaft unsere Balance verloren.“ Was wäre ihre Vision einer besseren Zukunft? „Wir sollten uns auf die Bildung fokussieren. Die Kinder und jungen Leute zum selbständigen Denken erziehen, damit sie nicht alles einfach schlucken. Das ist vielleicht das Beste an der Krise. Die Menschen fingen an nachzufragen, zu lesen, ihre Gehirne zu nutzen.“ Ob die Vision vom mündigen Bürger tatsächlich realistisch und staatsgewollt sein kann? Sie überlegt. „Kein System das ich kenne bringt die Leute zum Denken.“
Bei der Verabschiedung frage ich, ob sie darüber nachdenkt, das Land zu verlassen wie andere gut ausgebildete Akademiker? Kurz schweigt sie, dann: „I’m looking.“
Wir alle haben eine Geschichte und nur allzu oft ist sie verknüpft.
Auf dem Weg zurück nach Deutschland versuche ich das Erfahrene einzuordnen. Was alle mit denen ich gesprochen habe eint ist die Hoffnungslosigkeit, die Sorge vor Verarmung und zunehmender Kriminalisierung, die Hilflosigkeit ob der Flüchtlingsproblematik und die Furcht vor der Zunahme rechter Gewalt in ihrem Land – und in Europa.
Das Thema ist natürlich denkbar komplex. Tatsache ist aber, dass das momentane Miteinander nicht mehr viel vom europäischen Ursprungsgedanken in sich trägt – und zwar auf beiden Seiten. Ja, in Griechenland ist über viele Jahre immens viel katastrophal schief gelaufen. An manchem hatten andere Länder ihren Anteil, an einigem haben sie zumindest mit profitiert, an anderem nicht. Es ist mühsam, beständig den Zweite-Weltkrieg-Joker aus der Tasche zu ziehen, aber mal vorsichtig formuliert: auch manch anderer Staat hat über lange Zeit unverzeihliche Fehler begangen und auch er bedurfte der Unterstützung und Hilfe seiner Nachbarn. Wir alle haben eine Geschichte und nur allzu oft ist sie verknüpft.
Deutschland ist gerade – durchaus auch berechtigt – ins Kreuzfeuer geraten, doch ist es die falsche Richtung, wenn gerade diejenigen, die nachdenken und sich engagieren sich in Selbstbezichtigungen und Scham ergehen.
Möglicherweise wäre es auch für die europäische Gemeinschaft an der Zeit, sich bewusst machen, was dieses Land der Streber und Steuerzahler an Positivem mitbringt. Und vielleicht sollten einige Menschen bei uns begreifen, dass in einem Land wie Griechenland einiges funktioniert, was wir längst verloren haben, allem voran der beeindruckend starke Familienzusammenhalt oder das Bewusstsein dafür, dass man selbst handeln kann, ja muss, wo der Staat seinen Aufgaben nicht gerecht wird.
Wenn wir uns den gesamteuropäischen Fragestellungen nicht gemeinsam stellen, wird jedes Land alleine damit umgehen müssen. Das scheint für Deutschland gerade ein zu vernachlässigendes Problem, denn all das geschieht vornehmlich „dort“. Doch die Gewalt gegen Flüchtlinge und die Hilflosigkeit anhand der vielen Menschen, die untergebracht, versorgt und betreut werden müssen, zeigt, dass sich diese Probleme nicht auf Griechenland beschränken. Wenn mittellos gewordene Griechen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Länder des Nordens streben, gefolgt von tausenden weiteren traumatisierten Kriegsflüchtlingen, wird die Krise auch bei uns ankommen.
Im Kern geht es darum, wie wir leben wollen und was uns als Menschen ausmacht.
Und doch sollte eine neue Art von Zusammenhalt nicht Selbstzweck sein. Im Kern geht es darum, wie wir leben wollen und was uns als Menschen ausmacht. In unserem Grundgesetz haben wir diesen wunderbaren ersten Artikel, der besagt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Ist das nicht grandios? Und ist dieser Artikel nicht entstanden aus den Lehren, die ebendieses deutsche Volk so bitter ziehen musste?
Wäre es denn folgerichtig nicht unsere Aufgabe, gerade weil wir durch unsere Geschichte und deren Aufarbeitung Abstand von der rein nationalen Identifikation gewinnen mussten, zu helfen, dieses Europa neu zu definieren? Nicht wegzusehen und zu hoffen, dieser Kelch möge an uns vorüberziehen.
Wir könnten Griechenland ein gleichgestellter Partner sein, das geht aber nur, wenn beide Länder bereit sind, miteinander und vor allem: für die Menschen zu arbeiten.
Und ich stimme mit Pangiotis überein: Wir müssen kämpfen. Wir alle.
Mahatma Ghandi sagte einst: „Der Friede zwischen den Nationen muss auf dem soliden Fundament der Liebe zwischen Individuen beruhen.“ Am Ende bestehen die Länder und Staaten nämlich daraus: Aus Menschen, die ihr eigenes kleines Stück Land schützen und die sich bekriegen können – oder sich für einander interessieren und zusammenhalten, weil die Geschichte uns alle gelehrt hat, dass das Gegeneinander zu keiner Zeit funktioniert hat.
Bei meiner Ankunft in München ist es sommerlich warm. Noch voller Gedanken gehe ich zu Ioánnis auf einen Ouzo. Er lächelt, als ich von meiner griechischen Reise erzähle – und füllt mein Glas erneut.
Man könnte meinen, es wäre so einfach.
*Namen geändert
Unsere Genossin Sarah Schill, geboren 1977 in München arbeitet als Drehbuchautorin für Film und Fernsehen, sowie als Autorin, Lektorin, Redakteurin und Fernsehjournalistin. Ihr Sachbuch „Anständig leben“ erschien 2014 im SüdWest Verlag. Sie lebt mit ihrer Familie in München und Berlin.